Eine Geschichte über eine Kapsel, die dein Leben verändert.
Inhaltswarnung
- Drogeneinnahme
Die Kurzgeschichte
Nimm sie, sagte Isabella. Damit fühlst du dich so, wie du dich noch nie gefühlt hast. Ich blickte auf die kleine rot-blaue Kapsel in meiner Hand und wieder zu ihr zurück. Du hast sie also schon mal genommen? fragte ich sie. Hunderte Male, rief sie und lachte. Es ist verrückt, wenn ich sie nehme, denke ich mir, habe ich vorher überhaupt richtig gelebt? Wusste ich überhaupt, was Gefühle sind? Weiß ich überhaupt, was Schmerz ist, oder Glück, oder Aufregung? Alles ist gesteigert. Es ist also wie LSD, sagte ich misstrauisch, während ich die rot-blaue Kapsel noch immer in der offenen Handfläche hielt. Sie sieht so klein aus, so harmlos. Aber sie enthält einen ganzen Cocktail an pharmazeutischen Wundermitteln, denke ich mir. Unglaublich, dass so ein kleines Ding die ganze Wahrnehmung verändern kann, sagte ich mir. Irgendwie fühlt es sich in meiner Hand warm an, als würde es eine Art Kraft ausstrahlen, das ewige Glühen des Lebens, voller Hoffnung und Versprechen.
Auf keinen Fall, sagte Isabella. Sie ist so viel mehr als das. Lass mich dir ein Beispiel geben. Wenn du einen Obdachlosen auf der Straße siehst, was ist deine erste Reaktion?, fragte sie. Ähm, ich … ich wusste nicht, was ich antworten soll. Also, ich wusste, was ich antworten soll, aber es schien nicht adäquat zu sein. Man wendet sich ab, das macht man so. Das macht jeder. Aber EmGo ist die Lösung für dieses Problem und noch viel mehr. Isabella klingt jetzt wie einer dieser hypermotivierten Menschen in der Werbung, die sich voll und ganz ihrem Produkt verschrieben haben und völlig überzeugt sind, dass es die Menschheit retten wird. Sie arbeitet in dem großen Pharmaunternehmen, in dem EmGo hergestellt wird, neben vielen anderen ähnlichen Produkten. Deshalb war sie auch eine der ersten, die es ausprobiert hat. Und sie hat nicht unrecht, ich würde mich abwenden. Ich war schon immer ein Mensch, der sich leicht in andere Menschen hineinversetzen kann. Aber das hat mir mehr Kummer, Schmerz, Verzweiflung und Traurigkeit beschert als alles andere, geschweige denn etwas Positives. Um nicht zu viel zu fühlen, muss ich mich vor dem Schmerz anderer Menschen verschließen. Es geht darum, diese Gefühle anzunehmen und nicht zu unterdrücken, fährt Isabella fort, wie eine CD, die auf Wiederholung steht. EmGo hilft dir, mit diesen Gefühlen umzugehen. Du bist in der Lage, sie Gutes zu nutzen, redete sie weiter. In meinem Beispiel, was denkst du, würdest du mit EmGo tun, wenn du einen Obdachlosen siehst? fragte sie, ohne auf meine Antwort zu warten. Du fühlst wirklich, was sie fühlen. Du kannst ihren Schmerz sehen und du verstehst es. Du verstehst sie wirklich. Und du kannst helfen.
Und es hat keine Nebenwirkungen? fragte ich, immer noch unsicher, ob ich das Richtige tue. Die Kapsel beginnt zu leuchten. Ich blinzle und schaue sie an. Ja, sie gibt einen subtilen Schimmer ab, der aus dem Inneren zu kommen scheint. Ich frage mich, was sie in diese Dinger tun, damit sie die Neuronen oder die Verbindungen oder was auch immer so durcheinander bringen können. Nein, sagt sie, das ist ja das Erstaunliche daran. Du wirst es immer wieder nehmen wollen, das verspreche ich dir. Sie zwinkert mir zu. Verheimlicht sie mir etwas?
Okay, was soll’s. Alles oder nichts. Definitiv alles, dachte ich, als ich die rot-blaue, gar nicht so harmlose, alles versprechende Kapsel nehme und mit einem Schluck hinunterschlucke. Wie lange dauert es, bis sie wirkt? fragte ich Isabella. Die Wirkung tritt sofort ein, antwortete sie mir. Probieren wir es aus! Sie nahm mich an der Hand, zog mich auf die Straße und wir gingen los. Ich spüre schon, wie die Kapsel wirkt, dachte ich, etwas ist anders, etwas passiert. Ich fühle etwas, sagte ich laut. Es ist erstaunlich, oder? antwortete sie. Ich kann die Gefühle um mich herum nicht nur spüren, ich kann sie sehen. Ich blickte mich um, überall Menschen, die ihre Gefühle zeigen, als ob sie diese auf große Schilder schreiben und mit sich herumtragen würden. Ein Mädchen, das ein Eis in der Hand hält, strahlte tiefste Zufriedenheit in orange-rosa aus. Ein Teenager, der mit seiner Mutter über etwas stritt, stieß leuchtend rote Funken aus, die hoch in den Himmel schossen. Isabella, die zügig neben mir herlief, leuchtete goldgelb vor Stolz und Glück. Ich schaute mich um. Einige der Farben, die ich sah, konnte ich nicht einmal ansatzweise beschreiben. Emotionen waren überall, aber sie wirkten nicht gefährlich. Sie waren einladend. Ich fühle mich überhaupt nicht überwältigt, dachte ich. Warum nimmt das dann nicht jeder jeden Tag? Ich weiß warum, weil sie verdammt teuer sind, diese Pillen. Ich habe Glück, dass ich Isabella kenne, denn sie hat ein paar Gratisproben mitgebracht. Ich weiß jetzt schon, dass ich das noch einmal machen will.
Nach gefühlten Stunden kamen wir wieder bei mir zu Hause an und gingen hinein. Ich fühlte mich schläfrig, als wäre ich high gewesen und käme langsam wieder runter. Was ist eigentlich der Wirkstoff? fragte ich und sah Isabella an. Sie lächelte, freute sich über meine Entscheidung, es zu nehmen, und über die Erfahrungen, die ich gemacht hatte. Nichts, antwortete sie. Was meinst du mit nichts?, fragte ich. Nichts als positive Erwartungen, sagte sie.
Die Studie
Hartmann, H., Forbes, P. A. G., Rütgen, M., & Lamm, C. (2022). Placebo analgesia reduces costly prosocial helping to lower another person’s pain. Psychological Science, 33(11), 1867–1881. https://doi.org/10.1177/09567976221119727. Finde mehr Info über die Erstautorin hier!
Die Verbindung zwischen Geschichte und Studie
In dieser wissenschaftlichen Studie wurde untersucht, ob wir unser eigenes Schmerzverarbeitungssystem benötigen, um den Schmerz anderer zu verstehen und zu teilen, und ob dies wiederum unser Hilfsverhalten beeinflusst. Die eine Hälfte der Studienteilnehmenden erhielt eine Kapsel, die als “starkes Schmerzmittel” angepriesen wurde und Schmerzen lindern solle (in Wirklichkeit hatten alle ein Placebo erhalten, also eine Zuckerpille ohne pharmakologischen Wirkstoff; dies war die Placebogruppe). Die andere Hälfte erhielt nichts (dies war die Kontrollgruppe). Dann wurden alle Teilnehmenden gebeten, sich zu entscheiden, ob sie sich körperlich anstrengen wollten, um einem zweiten Teilnehmenden zu helfen, weniger Schmerzen zu haben. Das heißt, wenn man sich nicht anstrengte, bekam die andere Person ein paar schmerzhafte Schocks, aber wenn man sich anstrengte, konnte man diese Schocks verringern. Die Studie zeigte, dass die Einnahme einer solchen Pille, von der man glaubt, dass sie den eigenen Schmerz verringert, tatsächlich dazu führt, dass man einer anderen Person weniger oft hilft. Dies galt jedoch nur, wenn der moralische oder soziale Druck zu helfen gering war, zum Beispiel, wenn man gar nicht so viel helfen konnte. Wenn man der anderen Person hingegen sehr viel helfen konnte, halfen beide Gruppen gleich oft. Und dieser Effekt des verringerten eigenen Schmerzes auf das Hilfeverhalten wurde davon beeinflusst, wie viel Empathie die Versuchspersonen für den anderen Teilnehmenden empfanden. Die fiktive Kurzgeschichte schildert einer Welt, in der der richtige Umgang mit den eigenen Gefühlen so einfach ist wie die Einnahme einer Kapsel, selbst wenn diese Kapsel ein Placebo ist. Sie soll die Macht positiver Erwartungen zeigen, d. h. wie unser Gehirn, unser Körper und unsere Psyche auf den Glauben an bestimmte Dinge reagieren, z. B. an eine Behandlung, die Schmerzen lindert oder uns ein besseres Gefühl gibt.
Was ist mit euch? Würdet ihr eine solche Pille nehmen?
Dieser Beitrag wurde für den Wettbewerb Fast Forward Science 2022/23 eingereicht (mehr Info hier: http://www.fastforwardscience.de), in der Kategorie #OpenBoxSpezial.
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