Ein Bild mit dem Titel der Geschichte "Parallele Paula Teil 3" und dem Namen der Autorin "Helena Hartmann". Das Bild enthält auch das Logo von Science & Fiction und eine Grafik zweier sich spiegelnder Gesichter.

Sich selbst konfrontieren ist einfacher als gedacht.

Inhaltswarnungen

  • Medikamenteneinnahme
  • Angst und Depression
  • Panikattacken

Die Kurzgeschichte

Bevor du loslegst, lies Teil 1 dieser Geschichte hier und Teil 2 hier.

(…)

Dann erinnere ich mich plötzlich, woher ich die Ohrringe kenne, die Paula 2.0 trägt. Emma hat sie mir zu meinem 30. Geburtstag geschenkt. Emma ist meine jüngere Schwester und die größte Stütze, die ich im Leben habe. Wir sind uns in mancher Hinsicht ähnlich, aber in anderer so grundlegend verschieden. Sie hat nicht meine Ängste, meine Panik, meine ständigen Sorgen. (Ich glaube? Die meiste Zeit wirkt sie ruhig, still, tief in Gedanken versunken. Sie schätzt die Situation sorgfältig ein und reagiert entsprechend. Manchmal bewundere ich sie. Was sage ich da, ich habe sie immer bewundert.) Sie ist nicht wie ich. Konzentriere dich, das andere Du trägt die gleichen Ohrringe wie du. Okay, irgendetwas stimmt definitiv nicht, und ich muss herausfinden, was (oder wer) es ist. Ich werfe einen Blick nach vorne auf das Auto, das jetzt schneller wird, während wir eine lange, kurvenreiche Strecke leicht bergauf fahren, das schwarze Auto mit Paula 2.0 nur ein paar Autos vor uns. Es könnte eine Weile dauern, bis wir anhalten, oder es könnte in den nächsten Minuten sein, denn ich habe keine Ahnung, wo sie wohnt oder was sie als Nächstes tun wird. Ich versuche, tief durchzuatmen und mich zu beruhigen, indem ich mich in das schwarze Lederpolster des Taxis sinken lasse. Die Kopfstütze fühlt sich angenehm an, wie ein weiches Kissen aus Wolken. Was hat die Therapeutin beim letzten Mal gesagt? Stellen Sie sich vor, Sie stehen am Rande einer belebten Straße und beobachten Ihre Gedanken, Sorgen und Probleme. Wenn sie auftauchen, nehmen Sie sie zur Kenntnis und lassen Sie sie vorbeiziehen. Als ob das so einfach wäre.

Ich erinnere mich an das letzte Mal, als ich auf dem Rücksitz eines Taxis saß, direkt nach meiner allerersten Panikattacke. Ich weiß nicht, wie oder warum es anfing, aber ich wachte eines Morgens auf und mein Herz schlug so schnell wie eine Million Mal pro Minute, so schnell, dass es stillzustehen schien. Mein ganzer Körper war angespannt und wütend, wach und müde, verdreht und ängstlich. Als ob jemand ständig auf den roten Panikknopf drückte, ständig das Licht an- und ausschaltete, ständig die Körpertemperatur von heiß auf kalt stellte. Unerbittlich. Ich war so überrascht von dieser Erfahrung, dass ich nur noch die erste Person in meiner Anrufliste anrufen konnte, Emma. Ich brauchte nicht viel zu sagen, ich sagte nur ‘Emma’, mehr nicht. Sie hielt kurz inne, dann antwortete sie: ‘Ich bin auf dem Weg’. Zehn Minuten später war sie in meiner Wohnung und hob mich vom (physischen und metaphorischen) Boden auf, führte mich nach draußen und in ein Taxi, das auf uns wartete. (Hatte sie es schon gerufen, bevor sie mich abholte?)

“Sechs siebzig“, sagt der Taxifahrer und holt mich damit brutal in die Realität zurück. Wir fahren nicht mehr, sondern stehen in einer ruhigen Straße mit vielen kleinen Häusern nebeneinander. Wie lange sind wir denn gefahren? “Hä?“, sage ich verwirrt und wende meinen Blick vom Fenster zurück zu ihm. “Sechs siebzig“, wiederholt der Taxifahrer etwas lauter und tippt auf den Zähler, der an der Windschutzscheibe klebt. Er klingt ungeduldig und genervt. Mir wird heiß und kalt zugleich. Scheiße, scheiße, scheiße. Habe ich überhaupt Geld? Ich fange an, in meinen Manteltaschen zu kramen und finde mein Handy, das jetzt 15:47 Uhr anzeigt, einen braunen Haargummi, ein benutztes Taschentuch und ein paar lose Münzen, die sich auf (ja!) 11,50 € summieren. Ich bezahle den Fahrer schnell, murmle ein Dankeschön, öffne die Hintertür und schaue aus dem Auto. Ich sehe das schwarze Auto auf der anderen Straßenseite, das vor einem kleinen hellblauen Haus geparkt ist. Paula 2.0 holt ihren Koffer aus dem Kofferraum, winkt dem mysteriösen Fahrer zum Abschied und geht auf das Haus zu. Ich steige aus dem Taxi und bleibe, wo ich bin, ein weiteres geparktes Auto verdeckt mich vor meinem anderen Ich. Sie holt die Schlüssel heraus, öffnet die Haustür und verschwindet. Was war noch mal mein Plan? Es dauert gefühlte zehn Minuten, bis ich an der Haustür des blauen Hauses stehe. Ich gehe langsam und rechne damit, dass jeden Moment ein Kamerateam aus dem Gebüsch springt, um mir zu sagen, dass das alles nur ein großer Scherz war. Wenn das so wäre, dann war es allerdings ein wirklich schlechter. Mit einem Herz, das so schnell schlägt, dass ich die einzelnen Schläge nicht mehr auseinanderhalten kann, klopfe ich an die Tür.

Ich stehe da, so unglaublich nervös, dass ich für einen Moment denke, ich könnte hier auf der Stelle in Ohnmacht fallen, und dann ist alles, was Paula 2.0 beim Öffnen der Tür vorfindet, ein zerbröseltes Etwas auf dem Boden, das entfernt so aussieht wie sie selbst. Aber meine Neugier siegt über meine Panik, und ich stehe regungslos da, beide Füße fest auf dem Boden, und lausche auf die kleinsten Geräusche, die ich hinter der Tür höre. Alles andere um mich herum verschwimmt. Und dann öffnet sich die Tür. Jetzt, wo ich Paula 2.0 so nahe bin, fallen mir all die vielen Ähnlichkeiten auf, die ich vorher nicht gesehen oder beachtet habe. Wie ihre/meine Nase etwas zu groß für ihr/mein Gesicht ist. Dass ihre/meine Augen die Farbe von dunkler geschmolzener Schokolade haben. Dass ihre/meine Schlüsselbeine ein bisschen mehr herausragen, als sie sollten. Wie ihre/meine Fingerspitzen leicht rot sind, weil sie nervös darauf herumkaut. Ich starre sie eine gefühlte Ewigkeit an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was sagt man, wenn man sich zum ersten Mal begegnet? “Hi, du siehst gut aus. Hast du etwas mit deinen Haaren gemacht?”

Paula 2.0 lächelt breit und streckt ihre Hand nach meiner aus. Paula, es wurde auch Zeit, dass du kommst. Es ist schön, dich endlich persönlich kennenzulernen“, sagt sie in meiner Stimme und lacht dieses leise Lachen, das wie meines klingt, aber auch nicht. “Ich mache uns einen schwarzen Tee - du magst ihn doch mit Milch und Zucker, oder?” Ich kann nicht antworten, meine Zunge ist schwer. “Komm lieber rein, wir haben viel zu besprechen“.

Diese Geschichte wurde aus dem Englischen von Helena Hartmann mithilfe von DeepL übersetzt.

Die Studie

Hartmann, H., Lengersdorff, L., Hitz, H. H., Stepnicka, P., & Silani, G. (2022). Emotional ego-and altercentric biases in high-functioning autism spectrum disorder: Behavioral and neurophysiological evidence. Frontiers in Psychiatry, 13. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2022.813969

Die Verbindung zwischen Geschichte und Studie

Die Studie und der letzte Teil der Kurzgeschichte lassen uns wieder darüber nachdenken, wie leicht oder schwer es ist, die Perspektive einer anderen Person einzunehmen, vor allem, wenn wir eine völlig andere Sichtweise haben. Menschen neigen dazu, ihre eigenen mentalen und emotionalen Zustände als Richtschnur zu verwenden, wenn sie andere beurteilen sollen. Das funktioniert, wenn die Zustände bei sich selbst und beim anderen gleich sind, wird aber schwierig, wenn sie es nicht sind. Diese Tendenz, die eigenen Gefühle auf andere zu projizieren, wird als emotionale Egozentrizität bezeichnet. Und genau diesen “Bias” wollte die Studie untersuchen. Genauer gesagt wollten die Autor:innen herausfinden, ob Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung dies noch stärker tun als Menschen ohne Autismus. Einundzwanzig Teilnehmer:innen mit Autismus und 21 Teilnehmer:innen ohne Autismus wurden gebeten, eine Aufgabe zur Messung der emotionalen Egozentrizität zu machen, während sie in einem Magnetresonanztomographen lagen, der ihre Gehirnaktivität maß. Überraschenderweise wiesen die beiden Gruppen vergleichbare Egozentrizität auf, was bedeutet, dass sie die Emotionen einer anderen Person ähnlich beurteilten. Allerdings waren zwei Hirnregionen, die für Prozesse wie die Unterscheidung zwischen sich selbst und anderen und die Perspektivenübernahme von zentraler Bedeutung sind, auf unterschiedliche Weise aktiv: Die temporoparietale Hirnregion und der supramarginale Gyrus, beide in der rechten Gehirnhälfte, wurden von Menschen mit und ohne Autismus unterschiedlich genutzt, während sie diese Aufgabe machten.

Fällt es euch leicht, sich in die Situation anderer Menschen zu versetzen?

Die Autorin

Helena hat Science and Fiction entwickelt und schreibt viele der Geschichten selber. In ihrer aktuellen Forschung als aktive Wissenschaftlerin beschäftigt sie sich mit den verhaltensbezogenen und neuronalen Grundlagen von Schmerz, Schmerzmodulation und Behandlungserwartungen anhand von Placebo- und Noceboeffekten. Ihr Doktorat absolvierte sie an der Social, Cognitive, and Affective Neuroscience Unit am Institut für Psychologie der Kognition, Emotion und Methoden der Universität Wien, wo sie Empathie und prosoziales Verhalten im Bereich Schmerz untersuchte.

Dr. Helena Hartmann
Dr. Helena Hartmann
Neuroscientist, psychologist and science communicator (she/her/hers)