Ein Bild mit dem Titel der Geschichte "Von Wellen und Gehirnwellen" und dem Namen des Autors "Sebastian Ocklenburg". Das Bild enthält auch das Logo von Science & Fiction und eine Grafik von drei Meereswellen.

Eine Geschichte daüber, was beim Schwimmen im Gehirn passiert, und über ein mysteriöses Ereignis an einem See.

Inhaltswarnungen

  • mysteriöses Verschwinden
  • rücksichtsloses Verhalten
  • PTBS

Die Kurzgeschichte

Wenn ich schwimme, ist es, als wärst du noch da. Die Wellen sind stückhaft und unregelmäßig und der Himmel über Sizilien ist schon viel zu dunkel. Ich sollte nicht mehr hier draußen sein. Die meisten Einheimischen haben das Meer schon vor ein oder zwei Stunden verlassen. Aber das ist mir egal. Das dunkle, salzige Wasser plätschert über das verblasste Schildkröten-Tattoo auf meiner linken Schulter. Mein Kraulen ist immer noch stark, selbst nach all den Jahren. Linker Arm, rechter Arm, linker Arm, für immer… - oder zumindest bis der Schmerz nachlässt. Ich atme, mein Kopf ist nur ein wenig über der Wasseroberfläche. Meine Füße treten auf und ab, schön gleichmäßig, mit minimaler Kraft. „Keine Kraft in den Beinen, das ist Energieverschwendung“, hallen deine Worte wie schon so oft in den Tiefen meines auditiven Kortex wider. „Die Beine sind nur dazu da, dich über Wasser zu halten, nicht um dich vorwärts zu treiben, dafür sind die Arme da“. Linker Arm, rechter Arm, linker Arm, atmen. Mein linkes Auge brennt stark. Ich war nicht vorsichtig genug, als ich meine Schwimmbrille aufgesetzt habe, und irgendwie ist das lauwarme und sehr salzige Meerwasser in mein linkes Glas gelangt. Aber das ist mir egal. Ich schwimme, und für den Bruchteil einer glorreichen Sekunde fühlt es sich an, als würdest du noch mit mir schwimmen.

Ich lächle, ein bisschen. So viel, wie ich nach dem, was an jenem Tag am See geschah, noch lächeln kann. „Menschen gehen immer“, hat mein Vater immer gesagt, als er noch lebte, aber ich hätte mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht träumen lassen, dass ihr alle so schnell weggeht. Dieser Tag am See sollte ein guter Tag werden. Die Turbo Turtles waren eine der besten Freiwasser-Schwimmmannschaften Deutschlands und wir waren sicher, dass wir dieses Jahr die Meisterschaft gewinnen würden. Wir hatten hart trainiert. Lange, zermürbende Tage mit immer wiederkehrendem Freistilschwimmen in dem schimmeligen, heruntergekommenen Schwimmbad in unserer Heimatstadt. “Chlor ist mein Parfüm“, pflegte mein Trainer zu sagen, und das war ziemlich zutreffend. Bei jedem Wetter sprangen wir ins Wasser und zogen unsere Bahnen, auch an Tagen, an denen sonst niemand ins Schwimmbad kam. Sogar im September, als braune Blätter auf der Wasseroberfläche zu treiben begannen und das Wasser so kalt wurde, dass unsere Lippen nach den ersten zwei Bahnen blau anliefen.

Wir hatten gehofft, dass sich an diesem Tag am See alles auszahlen würde, haben auf den Pokal hingefiebert, aber es kam anders. Nur wenige Minuten, nachdem der Schiedsrichter den Startschuss gegeben hatte, hüllte ein dichter, undurchdringlicher Nebel den See ein. So etwas hatte noch niemand gesehen, es war unmöglich, mehr als einen halben Meter vorauszusehen. Ich schwamm trotzdem, unerbittlich wie ein Orca, der seine Beute jagt.

Als ich die Ziellinie überquerte, war ich der Einzige, der es geschafft hatte.

57 der besten deutschen Freiwasserschwimmer:innen waren verschwunden, und egal, wie viele Polizeitauchende in den Tagen nach dem Rennen den See absuchten, es wurde nie etwas gefunden. Die Turbo Turtles waren verschwunden, für immer, und alle anderen Teams auch. Die Schlagzeilen in den Zeitungen reichten bis nach New York: „57 Eliteschwimmer:innen vermisst, deutsche Behörden haben keine Erklärung“. Bis heute hoffe ich manchmal, dass das alles nur ein ausgeklügelter Scherz war und dass ihr alle eines Tages auftauchen und mich auslachen werdet.

In den Tagen nach den Ereignissen am See war ich verzweifelt. Ich besuchte viele Ärzt:innen und Therapeut:innen und lernte alles, was ich über posttraumatische Belastungsstörungen wissen konnte, aber nichts von dem, was diese wohlmeinenden Menschen versuchten, um mir zu helfen, hatte irgendeine Wirkung auf die Schrecken, die mein Hippocampus jede Nacht und die meisten meiner wachen Stunden heraufbeschwor.

Seltsamerweise war das Einzige, was mir geholfen hat, mich zu beruhigen, genau das, was dich mir genommen hat: Schwimmen. Aus Neugier nahm ich an einer neurowissenschaftlichen Studie über das Schwimmen teil, für die ich in der Cafeteria der Universität Werbung gesehen hatte. Als ich für die Studie ins Schwimmbad ging, erklärten mir die Forschenden, dass ich an einem hochmodernen Experiment teilnehmen würde: Mit einem neuartigen Messgerät würden sie meine Gehirnwellen aufzeichnen, während ich schwamm - etwas, das bisher für unmöglich gehalten wurde. Sie setzten mir eine Kappe mit Elektroden auf den Kopf und gaben mir ein schwimmendes Gerät mit einem Smartphone, mit dem die Daten von der Kappe aufgezeichnet wurden. Nach der Aufzeichnung erklärte die freundliche, aber professionelle Forschungsassistentin, dass das menschliche Gehirn wie der Ozean unterschiedliche Wellenformen aufweist. Es gab Delta-Wellen, die mein Gehirn während des Tiefschlafs durchfluteten, Theta-Wellen, die auftraten, wenn ich vom Sieg meiner Mannschaft bei der Schwimmmeisterschaft träumte, Alpha-Wellen, die auftraten, wenn ich entspannt war, Beta-Wellen, wenn ich mich auf etwas konzentrierte, und nicht zuletzt Gamma-Wellen. Diese Art von Wellen trat auf, wenn ich auf etwas achtete oder versuchte, etwas im Kopf zu behalten. Sie erklärte weiter, dass meine Gehirnwellen beim Schwimmen insofern ungewöhnlich waren, als ich einen ungewöhnlich hohen Anteil an Alphawellen aufwies, was auf eine tiefe Entspannung im Wasser hindeutete.

Abrupt höre ich auf, von der Studie zu träumen und konzentriere mich wieder aufs Schwimmen.Links.Rechts.Links.Atmen.Als ich endlich wieder den Kopf über das Wasser hebe, stelle ich fest, dass ich von einem undurchdringlichen Nebel umgeben bin.Ich kann nicht mehr als einen halben Meter weit sehen.Zu dieser Jahreszeit sollte es in Süditalien eigentlich keinen Nebel über dem Meer geben, aber ich spüre eine seltsame Ruhe. Es fühlt sich fast wie … Erleichterung an.Vielleicht werde ich früher als gedacht wieder mit meinem Team vereint sein. „Turbo Turtles forever!“, rufe ich, und ich spüre, wie die Alphawellen immer stärker werden. Meine linke Hand trifft auf die kabbeligen Wellen, und ich rase durch den Ozean wie ein Orca.

Diese Geschichte wurde aus dem Englischen von Helena Hartmann mithilfe von DeepL übersetzt.

Die Studie

Klapprott, M., & Debener, S. (2023). Flooding brain waves: Mobile EEG Acquisition During Freestyle Swimming. Poster auf der Psychologie und Gehirn Konferenz 2023, Tübingen, Deutschland. https://twitter.com/mBrainTrain/status/1667134065063993345

Klapprott, M., & Debener, S. (2024). Mobile EEG for the study of cognitive-motor interference during swimming?. Frontiers in Human Neuroscience, 18, 1466853. https://doi.org/10.3389/fnhum.2024.1466853

Die Verbindung zwischen Geschichte und Studie

EEG (Elektroenzephalographie) ist eine weit verbreitete Technik zur Messung von Gehirnwellen. Traditionell wurde sie vor allem in Laborsettings eingesetzt, aber die jüngste Entwicklung mobiler EEG-Systeme ermöglicht EEG-Aufzeichnungen in realen Situationen, z. B. beim Autofahren oder Bungee-Jumping. Da das EEG Elektrizität misst, sind Aufzeichnungen beim Schwimmen aufgrund der leitenden Eigenschaften des Wassers bekanntermaßen schwierig. Klapprott & Debener (2023) haben gezeigt, dass dies technisch durchaus möglich ist, was eine beeindruckende wissenschaftliche Leistung und ein großer Durchbruch in der mobilen EEG-Forschung ist. In der Studie wurde die kognitiv-motorische Interferenz untersucht und der Fokus lag auf dem P300, einem sogenannten ereigniskorrelierten Potenzial (engl. event-related potential, ERP), das während einer sogenannten Oddball-Aufgabe aufgezeichnet wurde. Dabei handelt es sich um eine gängige EEG-Aufgabe, bei der viele häufige und wenige seltene akustische Reize präsentiert werden. In der Studie wurden die akustischen Reize über Kopfhörer unter einer Badekappe dargeboten. In der Geschichte werden stattdessen Alphawellen gemessen, die mit Entspannung in Verbindung gebracht werden. Obwohl dies in der Studie nicht gemessen wurde, würde die in der Studie verwendete Technik es ermöglichen, diese und andere Gehirnwellen zu messen, was ein wichtiger Schritt in Richtung einer Neurowissenschaft des Schwimmens wäre.

Der Autor

Sebastian Ocklenburg ist ein Buchautor, Blogger, und Neurowissenschaftler, der mit EEG arbeitet. Er geht auch gerne schwimmen.

Dr. Helena Hartmann
Dr. Helena Hartmann
Neuroscientist, psychologist and science communicator (she/her/hers)