Ein Bild mit dem Titel der Geschichte "Parallele Paula Teil 2" und dem Namen der Autorin "Helena Hartmann". Das Bild enthält auch das Logo von Science & Fiction und eine Grafik zweier sich spiegelnder Gesichter.

Wer ist Paula 2.0 und warum sieht sie wie ich aus?

Inhaltswarnungen

  • Medikamenteneinnahme
  • Angst und Depression
  • Panikattacken

Die Kurzgeschichte

Bevor du loslegst, lese erst Teil 1 dieser Geschichte hier.

(…)

Ich nenne sie vorläufig Paula 2.0, weil ich nicht weiß, wie ich sie sonst nennen soll. Ich blinzle einmal und blinzle noch einmal und drücke meine Augen so fest zusammen, wie ich kann. Ich schüttele den Kopf von links nach rechts, als ob ich mir selbst nicht glauben würde. Das kann nicht sein. Sie hebt sich von der riesigen Menschenmenge ab, die vom Bahnsteig kommt, als ob ein heller Scheinwerfer auf sie gerichtet wäre. Plötzlich wird die Zeit langsamer. Alles wird stiller. Sie anzuschauen ist, als würde man in einen Spiegel schauen, der einem sagt, dass man das schönste Mädchen der Welt ist, aber man weiß, dass der Spiegel lügt. Ich bin, ich meine, sie ist, eingebettet in die Menschenmenge, die von den Bahnsteigen kommt, das Haar vom Wind zerzaust, ein paar Regentropfen auf ihrem Mantel. Sie ist in warme Winterkleidung gehüllt, ein dunkelblaues Kleid mit weißen Streifen lugt unter einem schweren, dunkelgrauen Wollmantel hervor. Dazu trägt sie einen passenden dunkelblauen Schal, eine Mütze und Handschuhe. Ihre Beine sind in eine dunkelblaue, blickdichte Strumpfhose gehüllt und enden in schwarzen Lederstiefeln. Ihr rötlich blondes Haar lugt unter dem Hut hervor und reicht ihr kaum bis zu den Schultern, genau wie bei mir. An ihren Ohren baumeln goldene Ohrringe, die mir bekannt vorkommen. Wo habe ich diese Ohrringe schon einmal gesehen? Sie scheint größer zu sein als ich, aber dann fällt mir auf, dass ihre Schultern nicht so schlaff sind wie meine, wenn ich gehe. Ihr sommersprossiges Gesicht ist leicht errötet, genau wie meines, wenn ich mich beeile. Ihr Schritt ist selbstbewusst und entschlossen (nicht wie ich, denke ich sofort, oder genau wie ich? Mach mal halblang, Paula.).

Elegant navigiert sie mit ihrem Koffer durch die Menschenmenge, die sie umgibt, zu den Türen, die nach draußen führen. Sie scheint zu wissen, wohin sie geht, obwohl sie sich ständig umschaut, als erwarte sie, dass jemand auftaucht. Sie stößt fast mit einer anderen Person zusammen, weicht aber in letzter Sekunde aus und lacht ein Lachen, das wie mein Lachen klingt, aber irgendwie aufrichtiger wirkt. Ihre Augen zeigen eine Grimmigkeit, die mich dazu bringt, sie anzustarren. “Tut mir leid, mein Fehler“, ruft sie - und obwohl ihre Stimme genau wie meine klingt, fühlt sie sich anders an. Fröhlich, heiter, unbeschwert. (Wenigstens eine von uns, denke ich mir, 1:0 für Paula 2.0.) Wie kann ein Mensch mir so ähnlich und gleichzeitig so anders aussehen, frage ich mich, beobachte jede ihrer Bewegungen und lasse sie nicht aus den Augen.

Mein erster Impuls ist, auf sie zuzugehen und mich dieser bizarren Situation zu stellen, aber ich komme schnell wieder zur Vernunft. Ich drehe mich um und verstecke mich hinter einer der großen Marmorsäulen in der Haupthalle, um mein Gesicht zu verbergen. Ich verstecke mich vor mir selbst. Das ist zu verrückt, um wahr zu sein. Vielleicht habe ich einen geheimen Zwilling, von dem ich nichts weiß. Vielleicht schlafe ich und träume von einer fernen, futuristischen Gesellschaft, in der wir alle Doppelgänger haben, die einfach so herumlaufen, um all die Dinge zu erledigen, die ein einzelner Mensch in einem Leben niemals schaffen könnte. Maximale Produktivität erfordert, dass wir mehr als eine Version von uns selbst haben. Einen Moment lang muss ich über die Absurdität dieses Gedankens lachen. Darum sollte es im Leben nicht gehen: so viel wie möglich zu erledigen, so schnell wie möglich, und dabei eine andere Version von sich selbst zu brauchen, die einem bei den täglichen Aufgaben hilft, um alles rechtzeitig zu erledigen. Das Problem sind nicht wir, sondern diese beschissene Welt, die jeden Tag mehr und mehr von uns verlangt. Als ob das die normalste Sache der Welt wäre. Aber was gilt heutzutage überhaupt noch als normal?

Mein Lächeln verblasst. Ich muss herausfinden, was hier los ist, denn dies ist definitiv nicht der typische, langweilige Samstagnachmittag, den ich erwartet habe. Mir wird klar, dass ich nicht einmal weiß, welcher Wochentag oder welches Datum oder sogar welches Jahr heute ist. Diese Situation ist lächerlich, beängstigend und aufregend zugleich. Mein Verstand ist immer noch ein müdes, nebliges Durcheinander und ich versuche, die wenigen Fakten, die ich im Kopf habe, zu sortieren: Paula 2.0 sieht genauso aus wie ich, zumindest körperlich. Von der Persönlichkeit her wirkt sie wie eine bessere Version von mir, sie scheint alles im Griff zu haben. Zumindest ist das mein erster Eindruck, aber andererseits habe ich schon immer positiver über andere Menschen gedacht als über mich selbst. Ich konzentriere mich immer auf meine eigenen Schwächen und die Leistungen anderer. Wahrscheinlich sollte ich eine Art Coaching für das Hochstaplersyndrom oder etwas Ähnliches machen. Paula, hör auf damit, sage ich mir. Ich höre meine Therapeutin sagen: „Nenne mir drei Dinge, die du an dir magst, Paula. Erzähl mir etwas Gutes, das heute passiert ist, Paula. Erzähl mir von einer Zeit in deinem Leben, in der du glücklich warst, Paula.’ Und ich weiß es nicht. Ich weiß es verdammt noch mal nicht.

Während ich in Gedanken versunken bin, hat Paula 2.0 schon fast den Ausgang des Bahnhofs erreicht. Gerade als sie aus dem Blickfeld verschwindet, wacht mein Körper wieder auf. “Folge ihr!”, schreit mein Verstand so laut, dass ich Mühe habe, ihn zu verstehen. “Lass sie nicht entkommen!”. Vielleicht weiß sie, was hier vor sich geht, dann wäre sie eine von zweien. Mein Körper fühlt sich plötzlich wie ein großer Magnet an, der seinen Gegenpol anzieht. Ich spüre, wie sich meine Beine bewegen, einen Fuß vor den anderen setzen und der anderen Version von mir aus dem Bahnhof folgen (zumindest funktionieren meine Urinstinkte noch). Kaum habe ich die Haupthalle verlassen, schlägt mir ein kalter Windstoß und Regen ins Gesicht, so dass ich zurückschrecke und mich fast wieder umdrehe. Draußen sieht es aus wie ein typischer regnerischer, kalter Nachmittag, aber ich habe immer noch keine Ahnung, wo ich bin. Konzentriere dich, Paula, du hast eine Aufgabe. Aufgaben zu haben hilft mir, sie beschäftigen mich und geben mir ein Gefühl der Sicherheit. Eine Aufgabe nach der anderen. Ich sehe mich nach Paula 2.0 um und entdecke sie am Straßenrand vor dem Bahnhof, wo sie sich vor Wind und Regen schützt. Sie sieht aus, als würde sie nach jemandem suchen. Ein paar Sekunden später beginnt sie zu lächeln und winkt heftig. Ich sehe ein schwarzes Auto mit getönten Scheiben vorfahren und sie winkt jemandem zu, den ich nicht sehen kann. Ein:e Freund:in? Ein:e Partner:in? Ein Familienmitglied? Paula 2.0 wirft ihren Koffer in den Kofferraum. Jemand öffnet die Beifahrertür von innen und sie geht um das Auto herum, um hineinzugleiten.

Ohne nachzudenken, renne ich zum Taxistand zehn Meter hinter dem schwarzen Auto und reiße die hintere Tür des vordersten Taxis auf. “Folgen Sie dem schwarzen Auto!“, will ich rufen, lache dann aber darüber, wie lächerlich filmreif das klingt, und sage stattdessen: “Entschuldigung, können Sie bitte hinter dem schwarzen Auto herfahren? Meine Freunde haben keinen Platz mehr und ich habe gesagt, dass ich ein Taxi nehmen werde.” Meine Stimme klingt ganz rau und seltsam, als hätte ich schon lange nicht mehr benutzt, und ich muss mich ein paar Mal räuspern, bevor ich die Worte verständlich rausbringe. Zum Glück schaut mich der Taxifahrer nicht einmal an, sondern nickt und startet den Motor, gerade als sich das schwarze Auto, in das Paula 2.0 vor einer Minute eingestiegen ist, in Bewegung setzt. Wenigstens bin ich irgendwo, wo man meine Sprache spricht. Ich seufze erleichtert, als er mich nicht nach der genauen Adresse fragt, sondern sein Auto mühelos in den fließenden Verkehr steuert, zwei Autos hinter dem schwarzen. Ich lehne mich zurück und merke, dass ich außer Atem bin. Entspann dich, Paula, sage ich mir, obwohl ich weiß, dass ich im Moment alles andere als entspannen kann. Ich schaue aus dem Fenster und merke, dass ich immer noch keine Ahnung habe, wo ich bin. Autos, Menschen und Häuser rasen an mir vorbei, während wir dem schwarzen Auto durch anonyme Straßen folgen.

Diese Geschichte wurde aus dem Englischen von Helena Hartmann mithilfe von DeepL übersetzt.

(…)

Lese Teil 3 hier!

Die Studie

Garbarini, F., Fornia, L., Fossataro, C., Pia, L., Gindri, P., & Berti, A. (2014). Embodiment of others’ hands elicits arousal responses similar to one’s own hands. Current Biology, 24(16), R738-R739. https://doi.org/10.1016/j.cub.2014.07.023

Die Verbindung zwischen Geschichte und Studie

In der Studie und dem zweiten Teil der Kurzgeschichte geht es darum, sich in die Lage eines anderen Menschen zu versetzen. In der Studie wird erklärt, dass die Empathie für eine andere Person, die Schmerzen hat, dadurch erreicht und gesteigert werden kann, dass wir die schmerzenden Körperteile anderer Menschen in unseren eigenen Körper integrieren. Dies wiederum aktiviert unsere eigenen somatosensorischen und motorischen Regionen im Gehirn (d. h. Regionen, in denen verschiedene Körperteile repräsentiert werden, vom Kopf bis zu den Füßen). Um dies zu untersuchen, führten die Autor:innen eine Studie durch, bei der 30 Teilnehmende sahen, wie Hände verschiedener Hautfarben schmerzhafte Injektionen mit Nadeln erhielten, entweder auf einem Bildschirm vor ihnen oder auf einem Bildschirm, der die gezeigte Hand mit ihrer eigenen Hand überlagerte. In der letztgenannten Situation hofften die Autor:innen, dass die Menschen die andere Hand besser zu ihrer eigenen zuordnen und sich besser einfühlen könnten. Sie verwendeten ein Elektroenzephalogramm, um die Gehirnaktivität der Personen während dieser Aufgabe zu messen. Tatsächlich war die mit Empathie zusammenhängende Gehirnaktivität bei denjenigen Personen stärker, die angaben, dass sie eine stärkere Überschneidung mit der anderen Hand fühlten (= mehr das Gefühl hatten, die andere Hand gehöre zu ihnen). Eine solche starke Überschneidung beseitigte auch den so genannten Ethnizitäts-Bias, bei dem Menschen weniger Empathie für Menschen empfinden, die eine andere Hautfarbe haben als sie selbst. Wir wissen noch nicht, wer Paula 2.0 ist, aber Paula scheint sich in ihr Alter Ego hineinversetzen zu können und ist neugierig, mehr über sie herauszufinden.

Wie leicht fällt es euch, sich in Menschen einzufühlen, die anders sind als ihr selbst?

Die Autorin

Helena hat Science and Fiction entwickelt und schreibt viele der Geschichten selber. In ihrer aktuellen Forschung als aktive Wissenschaftlerin beschäftigt sie sich mit den verhaltensbezogenen und neuronalen Grundlagen von Schmerz, Schmerzmodulation und Behandlungserwartungen anhand von Placebo- und Noceboeffekten. Ihr Doktorat absolvierte sie an der Social, Cognitive, and Affective Neuroscience Unit am Institut für Psychologie der Kognition, Emotion und Methoden der Universität Wien, wo sie Empathie und prosoziales Verhalten im Bereich Schmerz untersuchte.

Dr. Helena Hartmann
Dr. Helena Hartmann
Neuroscientist, psychologist and science communicator (she/her/hers)