
Wer sind die Menschen die wir im Spiegel sehen wirklich?
Inhaltswarnungen
Verletzung
Die Kurzgeschichte
Auf dem Bahnhof ist viel los, wie immer. Sie ist außer Atem und müde, weil sie ihren schweren Rucksack den ganzen Weg hierher geschleppt hat und laufen musste, weil der Bus nicht kam und sie sonst ihren Zug verpasst hätte. Nur um sich zu beeilen und dann bei Ankunft festzustellen, dass er eine Stunde Verspätung hat.
Sie sieht sich nach einem Platz zum Sitzen oder Ähnlichem um, weil sie nicht weiß, was sie mit all der neu gewonnenen Zeit anfangen soll. Sie sieht eine Bank und bahnt sich einen Weg durch die Menschenmassen. Sie setzt sich hin, nimmt ihren Rucksack ab und seufzt. Sie hat schon lange aufgehört, sich durch unerwartete Zugverspätungen oder spontane Wartezeiten frustrieren oder stressen zu lassen. Es raubt ihr nur kostbare Lebenszeit, sich über etwas zu sorgen, das sie ohnehin nicht kontrollieren kann.
Ihr Blick schweift über die Hunderten von Menschen, die an ihr vorbeirauschen. So viele von ihnen, jeder auf einer anderen Mission, mit einem anderen Ziel, mit einer anderen Aufgabe. Eine Gruppe von Teenagern, die über etwas auf einem ihrer Handys lachen. Ein älterer Mann, der hörbar versucht, seinen Koffer auf die Rolltreppen zu hieven. Ein junges Paar, das Hand in Hand geht. Sie hat Zeit. Ihr Kopf fühlt sich schwer an.
Sie schaut zur Decke hinauf, stützt ihren Kopf auf den Rucksack neben sich und beobachtet das geschäftige Treiben durch die großen Deckenspiegel, die den Bahnhof wie ein unendliches Labyrinth erscheinen lassen, das den finalen Raum dieser Welt überwindet und sich bis in den Himmel erstreckt. Im Spiegel sieht sie eine Frau mit einer leuchtend neonpinken Mütze und hellblondem Haar. Sie ist wunderschön, denkt sie und beobachtet die Frau, die mühelos am Spiegel entlang gleitet. Sie wirkt so selbstbewusst, so glücklich. Sie erinnert sie an jemanden, mit dem sie gerne befreundet wäre, oder auch mehr. Die Frau verschwindet in einem der vielen Geschäfte des Bahnhofs und aus ihrem Blickfeld. Sie schaut immer wieder in den Spiegel, möchte den Spuren dieser Frau folgen und wartet darauf, dass sie wieder auftaucht. Ihr Kopf ruht bequem und gepolstert auf ihrem Rucksack und sie mag diese neue Art, die Welt zu beobachten. Generell liebt sie es, Menschen zu beobachten, aber das hier ist etwas Besonderes. Jeden durch den Spiegel zu sehen, als wäre er ein anderer Mensch. Sie hat einmal davon geträumt und lächelt, als sie an die Absurdität dieses Traums denkt.
Da ist die Frau wieder, sie kommt aus dem Laden, eine Tasche in der Hand. Sie schlendert durch den Bahnhof, langsam, ohne besonderes Ziel. Sie ist in Gedanken versunken. Gedanken worüber?, fragt sie sich. Die Frau scheint ihre Umgebung vergessen zu haben, denn sie stößt plötzlich mit einem Mann zusammen, der telefoniert und ebenfalls nicht aufpasst. Sie muss mit ziemlicher Wucht gegen ihn gestoßen sein, denn die Frau breitet ihre Arme aus, kann das Gleichgewicht nicht halten und fällt zu Boden. Sie kann nicht wegsehen und ihre Instinkte setzen sofort ein. Bevor sie sich ausmalen kann, wie sehr der Sturz der Frau wehgetan hat oder wie gut es wäre, aufzustehen und ihr zu helfen, ist sie schon auf den Beinen, lässt das Spiegelbild los und schaut in die Richtung, in der sie die Frau erwartet. „Geht es dir gut…“, beginnt sie zu fragen, bricht aber ab, weil niemand da ist. Ein vorbeigehender Mann sieht sie mit einem verwirrten Blick an, wahrscheinlich fragt er sich, warum sie inmitten eines belebten Bahnhofs Selbstgespräche führt.
Ihr Blick schweift hin und her. Überall Menschen, aber die Frau mit der pinken Mütze ist nirgends zu sehen. Die Frau, die sie unbedingt treffen und ihr helfen möchte. Sie fühlt sich immer noch sehr unwohl, weil sie den Sturz der Frau miterlebt hat. Das muss wirklich weh getan haben. Aber wo ist sie? Hat sie sich die Frau nur eingebildet, wie die Leute in ihrem Traum? Sie schaut wieder nach oben, vielleicht hat ihr der Verstand einen Streich gespielt. Oder sie hat die Perspektive des Spiegels falsch eingeschätzt. Über ihrem Kopf, in der großen, ganz verspiegelten Decke, kämpft die Frau immer noch darum, sich vom Boden aufzurichten, und reibt sich den Arm, der beim Sturz auf den Boden aufgeschlagen sein muss. Der Mann, mit dem sie zusammengestoßen ist, gestikuliert mit einem ärgerlichen Gesichtsausdruck. Pah, kein Mitgefühl von diesem Kerl, denkt sie. Sie lässt das Spiegelbild nicht los, weil sie Angst hat, die Frau wieder zu verlieren. Sie will immer noch verzweifelt helfen, weiß aber nicht wie.
Und dann schaut die Frau auf. Zu ihrer gemeinsamen Decke, ihrem gemeinsamen Raum, und ihre Augen treffen sich. Ihre sind grün und glitzern. Jetzt wird ihr auch zum ersten Mal bewusst, dass sie ihr eigenes Spiegelbild nicht sieht. Hmm. „Verdammt“, sagt die Frau mit der neonpinken Mütze, deren Namen sie nicht kennt, aber gerne wissen würde. Ihre Stimme klingt sehr weit weg und gleichzeitig sehr nah. „Du kannst mich sehen?“, fragt die Frau. „Ähm, ja? Brauchst du Hilfe?“, antwortet sie sofort, ohne daran zu denken, dass sie mit einem Spiegel, also sich selbst, mitten auf einem Bahnhof spricht. Sie schaut sich um und wieder nach oben. Und wieder nach unten. Und wieder nach oben. „Irgendetwas stimmt nicht …“, murmelt sie, ohne es ganz auszusprechen, aus Angst, verrückt zu klingen, denn es ist genau wie in ihrem Traum.
„Ich habe noch nie eine andere von uns getroffen. Super cool!“. „Eine andere was?“, fragt sie. Die Frau lächelt und greift nach oben. Sie streckt sich ihr entgegen. Sie deutet ihr an, auch die Hand auszustrecken, zu kommen. Wohin kommen? Sie kann nicht aufhören, die Frau anzusehen, deren Hand immer noch in der Luft schwebt und darauf wartet, von ihr und nur von ihr ergriffen zu werden. Jetzt kann sie nicht mehr aufhören, die anderen Menschen im Spiegel zu betrachten, die das Gleiche tun wie die Menschen neben ihr in ihrer Welt. Aber es sind andere Menschen. Wie war ihr das vorher nicht auffallen?! Wie in Trance steht sie plötzlich auf, aber lässt die Frau im Deckenspiegel nicht aus den Augen. Die Frau steht immer noch da, lächelnd, die Hand ausgestreckt. „Hey, ich beiße nicht!“, lacht sie. Okay, was soll’s. Der Zug fährt erst in etwa 50 Minuten oder so. Sie steigt auf die Bank, hält sich an ihrem Rucksack fest, etwas unsicher auf den Beinen. Sie steht aufrecht, aber sie erreicht die Decke noch nicht. Die Frau hält ihr immer noch die Hand hin. Sie sieht sich um. Niemand schenkt ihr Aufmerksamkeit. Das Sprichwort, dass jemand „in seiner eigenen Welt“ ist, bekommt plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Sie beginnt, ihre Hand auszustrecken. Zuerst passiert nichts, und sie kommt sich einige Sekunden lang sehr dumm vor. Aber dann spürt sie ein Ziehen, ganz leicht, dann stärker. Sie streckt ihren Arm ganz aus, zu neugierig, um es nicht zu versuchen. Sie hat alle anderen um sie herum völlig vergessen. Das Ziehen wird stärker und ihr wird übel. Kurz bevor der Bahnhof, ihr Bahnhof, zu verschwimmen beginnt und sie die Augen schließt, spürt sie Fingerspitzen, die ihre berühren.
Diese Geschichte wurde aus dem Englischen von Helena Hartmann mithilfe von DeepL übersetzt.

Die Studie
Hartmann, H., Riva, F., Rütgen, M., & Lamm, C. (2021). Placebo analgesia does not reduce empathy for naturalistic depictions of others’ pain in a somatosensory specific way. Cerebral Cortex Communications, 2(3), tgab039. https://doi.org/10.1093/texcom/tgab039
Die Verbindung zwischen Geschichte und Studie
In der Studie geht es darum, dass Menschen sich in den Schmerz anderer einfühlen können, kurz: Empathie haben. Es sollte untersucht werden, ob wir auch unseren eigenen somatosensorischen Kortex (den wir zur Verarbeitung unseres eigenen Schmerzes benötigen) nutzen, um uns in den Schmerz anderer einzufühlen. Die Autor:innen wollten herausfinden, ob die Beeinträchtigung des eigenen Schmerzes auch das Einfühlungsvermögen verändert, ob also ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Prozessen besteht.
Fünfundvierzig Teilnehmende wurden gebeten, ihre Emotionen zu bewerten, wenn sie Bilder sahen, die schmerzhafte Alltagssituationen darstellten, z. B. jemanden, der auf eine Hand tritt oder versehentlich heißen Kaffee über sie schüttet. Zuvor hatten sie eine Creme auf ihre rechte Hand aufgetragen bekommen, die als Lokalanästhetikum präsentiert wurde (in Wirklichkeit handelte es sich um ein Placebo-Gel ohne pharmakologische Inhaltsstoffe, und die Autor:innen nutzten den Placebo-Effekt, um die Teilnehmenden weniger Schmerzen empfinden zu lassen). Entgegen ihren Erwartungen unterschieden sich weder die Empathiebewertungen noch die Gehirnaktivität der Teilnehmenden, wenn sie den Schmerz der Hand bewerteten, an der sie diese Behandlung erhalten hatten, von denen der anderen Hand, die als Kontrollbedingung diente.
Dies wurde dahingehend interpretiert, dass der somatosensorische Kortex beim Empfinden von Empathie nicht unbedingt auf die gleiche Weise genutzt wird wie beim Fühlen von eigenem Schmerz. Er könnte immer noch aktiv genutzt werden, um ein Gefühl der Empathie zu erzeugen, aber diese Gefühle könnten weniger davon abhängig sein, wie man in diesem Moment Schmerz körperlich empfinden kann. Die fiktive Kurzgeschichte führt uns in eine Situation, in der wir uns stark in jemanden einfühlen, der gar nicht da ist - oder zwar da ist, aber in einer anderen Welt.
Was ist mit dir? Hättest du die Hand zum Spiegel ausgestreckt?
Die Autorin
Helena hat Science and Fiction entwickelt und schreibt viele der Geschichten selber. In ihrer aktuellen Forschung als aktive Wissenschaftlerin beschäftigt sie sich mit den verhaltensbezogenen und neuronalen Grundlagen von Schmerz, Schmerzmodulation und Behandlungserwartungen anhand von Placebo- und Noceboeffekten. Ihr Doktorat absolvierte sie an der Social, Cognitive, and Affective Neuroscience Unit am Institut für Psychologie der Kognition, Emotion und Methoden der Universität Wien, wo sie Empathie und prosoziales Verhalten im Bereich Schmerz untersuchte.