Eine auf den Kopf gestellte Geschichte über neurodiverse Menschen.
Inhaltswarnung
- Angst, Depression, Panikattacken, Bipolarität, Psychopathie
Die Kurzgeschichte
“Überhaupt nichts? Du bist neurotypisch?!”
Ich starre in meine leere Kaffeetasse. Warum habe ich dieses Thema angefangen? Ich hätte einfach ein paar beliebige erfinden sollen.
“Ich habe vier MED-Diagnosen”, plappert meine Arbeitskollegin Susan weiter, als hätte sie diese Rede schon tausendmal gehalten. Sie ist erst seit ein paar Wochen hier, weiß aber schon, wie das Spiel funktioniert. Das MED-Handbuch ist heutzutage die Bibel für alle.
“Ich werde morgen auf Bipolarität getestet, mein Coach sagt, ich habe gute Chancen. Wie fantastisch ist das denn?!”, sagt Susan mit einem breiten Lächeln. “Ich bin sicher, das wird mir bei meiner Beförderung sehr helfen. Nur sehr wenige Menschen haben genau mein Profil”, sagt sie und schaufelt sich das Essen in den Mund. Sie muss sich in einer ihrer manischen Phasen befinden, denke ich und beobachte, wie ihre Augen ziellos umherschweifen.
“Fantastisch…”, erwidere ich schwach. Ich bin mir bewusst, dass es normal ist, psychische Störungen zu haben. Und mit normal meine ich erwünscht. Und mit erwünscht meine ich höchst begehrt. Nicht Störungen, mentale Erweiterungen, korrigiere ich mich und höre die Stimme meines Kursleiters in meinem Hinterkopf. “Sie machen Sie zu einem besseren Menschen. Sie garantieren Ihnen eine bessere Zukunft. Entdecken Sie noch heute Ihr volles Potenzial!” Sie zwingen jeden auf der Arbeit, diese Kurse zu besuchen. Ich schaue auf meinen halb aufgegessenen Kuchen und habe plötzlich keinen Hunger mehr.
Susan redet einfach weiter: “Ich habe gehört, dass Janet letzte Woche ihr offizielles Psychopathie-Zertifikat erhalten hat!” Hört sie denn nie auf? Nicht jeder ist wie sie. Die Tests, um solche Diagnosen zu erhalten, sind schwer. Irgendwie habe ich es hinbekommen, bei jedem einzelnen von ihnen durchzufallen. Meine Gehirnaktivität sei “ungewöhnlich”, hatte der Prüfer gesagt, mein Hautleitwert “außer Rand und Band”, meine Gesichtszüge “nicht ausdrucksstark genug” und meine Körpersprache zu “neurotypisch”.
Ich denke über die letzten Jahre nach, während Susan fröhlich ihren Monolog alleine fortsetzt. Die Wahrnehmung von psychischen Störungen hat sich dramatisch verändert. Eine Prävalenz von 95% für mindestens eine Erweiterung und sogar 78% für zwei oder mehr Erweiterungen, wer hätte das gedacht… Bald erkannten Unternehmen, dass mit Neurodiversität mehr Geld zu verdienen ist als mit Neurotypizität. Mentale Erweiterungen werden jetzt als besondere Fähigkeiten betrachtet. Weil wir alle Übermenschen sind. Außer mir.
Ich stimme mit diesem Ansatz im Prinzip überein. Wir haben psychische Erkrankungen viel zu lange vernachlässigt und unterdrückt, sie aus Angst vor Stigmatisierung oder dem Verlust von Möglichkeiten versteckt. Jetzt ist alles anders, aber irgendwie immer noch falsch. Es ist nicht schwer, schüttle ich in Gedanken den Kopf, einfach alle so zu akzeptieren, wie sie sind. Keine Ausnahmen. Erfindet keine Sonderregeln, die einen Teil aller Menschen ausschließen.
“Ich muss los, bis später! Und wirklich, Charlotte, denk darüber nach, dich für einen weiteren Test anzumelden. Gib nicht auf!” Ich sehe ihr nach, als sie sich zum Gehen wendet. Es wird nicht funktionieren. Ich habe sie alle gemacht, bin aber bei jedem einzelnen durchgefallen. Und mit demselben Flyer mit der Überschrift “Keine Erweiterungen? Holen Sie sich noch heute Hilfe!” entlassen worden, gepaart mit dem gleichen mitleidigen Blick der Prüfenden. Ein hoffnungsloser Fall, nehme ich an.
Ich lasse mein Essen stehen, wo es ist, und schlurfe zurück zu meinem Schreibtisch. Mein Beruf ist das Sortieren von Akten für eine große Anwaltskanzlei. Das und andere ähnlich langweilige Jobs sind das, was wir bekommen. Die 5% der Bevölkerung, die Nichts haben. Die 5%, die eine große Lücke im Absatz über mentale Entwicklung haben, der seit 2400 - dem Jahrhundert der Neurodiversität - jeden Lebenslauf ziert.
Ich kämpfe gegen die Tränen und mein klopfendes Herz an, als ich mich hinsetze und die nächste Akte in die Hand nehme. “Charlotte, könnten Sie kurz in mein Büro kommen?”, fragt mich meine Chefin mit ernster Stimme. Ich spüre, wie Panik in mir aufsteigt. Reiß dich zusammen, Charlotte, sage ich mir, und mache mich auf den Weg in ihr Büro. Jeder Schritt fühlt sich an, als würde ich durch Schlamm laufen. Ich werde langsamer und langsamer, bis es so aussieht, als würde ich mich gar nicht mehr bewegen. Dann stehe ich vor ihrem Büro.
Nach der Besprechung, die genau 2 Minuten und 31 Sekunden dauert, gehe ich zu meinem Schreibtisch und packe die wenigen Dinge, die ich besitze, in eine Papiertüte mit dem Firmenlogo darauf. Ein Bild meiner Katze, ein Klebebandabroller in Form eines Chamäleons und ein Stift mit der Aufschrift “Du schaffst das!”, den mir - richtig geraten - Susan geschenkt hat. Ich versuche, jedes aufgestellte Haar an meinem Körper und die langen Blicke der anderen zu ignorieren, als ich die Treppe hinuntergehe. Vorbei an dem Raum, in dem traurige Dysthymiker:innen und Depressive gemeinsam grübeln, vorbei an dem Raum, in dem leidenschaftliche Manische hektisch Idee um Idee auf Whiteboards kritzeln, vorbei an dem schalldichten Raum, in dem hypersensible Menschen leise arbeiten, jeder in seiner vom Kopfhörer abgeschirmten Welt. Raus aus dem Gebäude. Das ist das Ende, denke ich. Ich bin einfach hoffnungslos.
Ich schaffe es nur, mich auf eine Bank fallen zu lassen, bevor ich anfange zu weinen. Ich weine, bis ich leer bin und es sich anfühlt, als würde mein Körper von innen heraus zerrissen werden. Niemand kommt mir zu Hilfe. Tiefe Verzweiflung und Übelkeit überkommen mich gleichzeitig. Niemand kümmert sich um mich, also warum sollte ich? Alles ist sinnlos, denke ich, und mein Brustkorb zieht sich so stark zusammen, dass ich glaube, er würde zu einem kleinen Ball zusammenschrumpfen. Ich höre Menschen lachen, aber als ich aufschaue, ist niemand da. Während ich auf mein kreisendes Herz, meine elektrisierten Extremitäten und mein schreiendes Gehirn höre, beginnt alles vor meinen Augen zu verschwimmen.
“Wach auf, Charlotte. Beweg dich noch nicht, während wir die Elektroden entfernen.” Ich öffne die Augen und sehe, wie eine dunkelhaarige Frau in einem teuren, glänzenden Anzug ein silbernes Kopfteil mit Knöpfen von meinem Kopf entfernt. “Du bist fertig. Bitte nimm nebenan Platz, während ich deine Ergebnisse prüfe.”
Die Frau muss mir auf- und aus der Tür gehen helfen. “Keine Sorge, das Serum wird in ein paar Minuten nachlassen”. Mein nebliger Geist klärt sich langsam. Verdammt, diese Simulationen werden immer realistischer und intensiver. Ich nehme einen tiefen Atemzug.
Nach gefühlten Stunden kommt sie wieder herein, mit einem Stück Papier, das sie mir in die Hand drückt. “Herzlichen Glückwunsch, Charlotte.”
Ich schaue auf das Dokument, auf dem in großen, fetten Buchstaben steht: “Zertifikat für Charlotte Newton, ausgestellt vom Mental Enhancement Diagnostics Center am 37.18.2487, für die mentalen Erweiterungen Depression Stufe 2 und Angst Stufe 3.”
Diese Geschichte wurde aus dem Englischen von Helena Hartmann mithilfe von DeepL übersetzt.
Die Studie
Elsherif, M. M., Middleton, S. L., Phan, J. M., Azevedo, F., Iley, B. J., Grose-Hodge, M., … Dokovova, M. (2022). Bridging neurodiversity and open scholarship: How shared values can guide best practices for research integrity, social justice, and principled education. MetaArXiv Preprints. https://doi.org/10.31222/osf.io/k7a9p. Find more info about the first author here!
Die Verbindung zwischen Geschichte und Studie
Der Preprint (eine Arbeit, die noch nicht begutachtet wurde, d. h. noch kein Feedback von der wissenschaftlichen Gemeinschaft erhalten hat) befasst sich mit Menschen, die in unserer heutigen Gesellschaft nicht als neurotypisch gelten, so genannte neurodiverse Personen. Dabei kann es sich um Menschen handeln, die körperliche oder geistige Behinderungen oder andere psychologische oder neurologische Erkrankungen haben. Oft werden neurodiverse Menschen erforscht (die Objekte) und sind nicht diejenigen, die die Forschung betreiben (die Subjekte), weil Wissenschaftler:innen besser verstehen wollen, warum bestimmte Erkrankungen so sind, wie sie sind. In der Studie heißt es, dass es sich lohnt, neurodiverse Menschen aktiv in die Forschung einzubeziehen, da ihre Lebenserfahrungen neue Standpunkte und Perspektiven einbringen können. Mit diesem Ansatz, der auch als “partizipative Forschung” bezeichnet wird, kann versucht werden, Barrieren wie Stigmatisierung und Ausgrenzung zu überwinden, und gleichzeitig kann die Forschung selbst sehr bereichert werden. Die fiktive Kurzgeschichte hingegen kehrt dieses Stigma auf die Neurotypischen um, obwohl auch dies eher wie eine dystopische Welt wirkt.
Es regt zum Nachdenken an, warum wir jemanden ausgrenzen, egal wer er ist. Es bringt einen zum Nachdenken: In welcher Welt würdet ihr leben wollen?
Die Autorin
Helena hat Science and Fiction entwickelt und schreibt viele der Geschichten selber. In ihrer aktuellen Forschung als aktive Wissenschaftlerin beschäftigt sie sich mit den verhaltensbezogenen und neuronalen Grundlagen von Schmerz, Schmerzmodulation und Behandlungserwartungen anhand von Placebo- und Noceboeffekten. Ihr Doktorat absolvierte sie an der Social, Cognitive, and Affective Neuroscience Unit am Institut für Psychologie der Kognition, Emotion und Methoden der Universität Wien, wo sie Empathie und prosoziales Verhalten im Bereich Schmerz untersuchte.