Ein Bild mit dem Titel der Geschichte "Fressen oder gefressen werden" und dem Namen der Autorin "C.-N. Alexandrina Guran". Das Bild enthält auch das Logo von Science & Fiction und eine Grafik eines roten Hummers.

Die Köchin eines Fischrestaurants nimmt ihre Gerichte genauer unter die Lupe.

Inhaltswarnungen

Angedeutete Tierquälerei

Die Kurzgeschichte

Als sie den Hummer in den Topf mit kochendem Wasser werfen wollte, hielt sie inne. Sie hatte das schon Hunderte Male gemacht, wenn nicht Tausende. Es gehörte zu ihrem Job, hungrigen Kunden köstliche und vor allem frische Meeresfrüchte zu servieren, für die sie auch bezahlt hatten. Aber heute hatte sie den Fehler gemacht, dem Hummer direkt in die Augen zu sehen. Oder hatte er in ihre geschaut? Was für ein dummer Gedanke. Es war ein Hummer. Hummer schauen einem nicht in die Augen. Zumindest nicht absichtlich.

Mit dem Kochtopfdeckel in der linken, Hummer in der rechten Hand, verharrte sie eine ganze Weile und starrte dem Hummer in die Augen. Sie riss sich davon los und sah sich verstohlen um. Niemand sonst war in der Küche. Schnell tauchte sie den Hummer in den Wassereimer unter der Arbeitsfläche und schloss den Topf mit kochendem Wasser. Irgendwie brachte sie es nicht fertig, diesen Hummer dieses Mal hineinzuwerfen.

Als ein Kellner hereinkam, ergriff sie die Gelegenhei:. „Hey, wir haben keinen Hummer mehr, du musst Tisch 4 sagen, dass sie etwas anderes bestellen müssen. Der letzte, den wir hatten, muss im Eimer gestorben sein. Ich werde ihn jetzt rausbringen.“ Sie schwitzte und hatte das Gefühl, in Tränen ausbrechen zu müssen. Als sie mit dem Wassereimer durch den Hintereingang hinausging, liefen dann auch Tränen über die Wangen. Zum Glück standen die Mülltonnen auf dem Parkplatz, und es war bereits dunkel, als sie den Eimer auf den Beifahrersitz stellte.

Die letzten Stunden ihrer Schicht waren schwer zu überstehen. Mehr Essen musste vorbereitet, mehr Tiere mussten zubereitet, serviert und gegessen werden. Als sie sich in ihr Auto setzte, schloss sie für eine Weile die Augen. In der Dunkelheit konnte sie spüren, dass sie nicht allein im Auto saß. Auf dem Sitz neben ihr saß ein Tier, ein Wesen, von dem sie nun wusste, dass es zu irgendeiner Art von Erleben fähig war. Wenn nicht Leid, dann zumindest Schmerz. Eine Existenz, die sie fast achtlos regelmäßig lebendig kochte. Sie versuchte, den Eimer nicht anzuschauen, aus Angst, diesen Augen wieder zu begegnen. Tiefe und dunkle und kleine Augen, aber dennoch sehende Augen. Augen, die mit einem zentralen Nervensystem verbunden waren, das ihrem eigenen im Großen und Ganzen wahrscheinlich gar nicht so unähnlich war.

Zurück in ihrer Wohnung gelang es ihr, den Hummer wieder zu anzusehen. In seinem Eimer bewegte er faul seine Fühler. Sie war jetzt für ihn verantwortlich, er gehörte ihr. Das Einzige, was sie über Hummer wusste, war, wie man sie zubereitet und isst. Was für ein Futter aßen sie? Wie konnte sie es ihm angenehm machen? Könnte sie ihn überhaupt als Haustier halten? An jenem Abend konnte sie nur eine schnelle Google-Recherche durchführen, woraufhin sie beschloss, ihre Badewanne zur Hälfte mit kaltem Wasser zu füllen und das Fenster zu öffnen, um kühle Luft hereinzulassen.

Sie war erschöpft, mehr als sonst nach einer Schicht im Restaurant. Während sie sich die Zähne putzte, betrachtete sie ihren Hummer, der in seinem behelfsmäßigen Becken herumlief. Wann war er “ihr Hummer” geworden? Zum Teil, um ihre Badewanne zurückzubekommen, musste sie sich schnell etwas einfallen lassen. Aber auch, wie es sie im Restaurant aus heiterem Himmel überfallen hatte, damit der Hummer weder Schmerzen noch Kummer empfinden würde. Vielleicht könnte sie zum Meer fahren, ein paar Stunden entfernt, und ihn einfach wieder in die Freiheit entlassen? Hatte er jemals im Meer gelebt? Sie schaltete das Licht in ihrem Badezimmer aus und sagte ihrem Hummer gute Nacht.

Morgen würde sie in eine Zoohandlung und vielleicht in eine Tierarztpraxis gehen und den Rest herausfinden. Und sie würde sich nach einem neuen Job umsehen müssen.

Diese Geschichte wurde aus dem Englischen von Helena Hartmann mithilfe von DeepL übersetzt, und von der Autorin überarbeitet.

Die Studien

Conte, F., Voslarova, E., Vecerek, V., Elwood, R. W., Coluccio, P., Pugliese, M., & Passantino, A. (2021). Humane Slaughter of Edible Decapod Crustaceans. Animals, 11(4), 1089. https://doi.org/10.3390/ani11041089

Mercogliano, R., & Dongo, D. (2023). Fish welfare during slaughter: the European Council Regulation 1099/09 application. Italian Journal of Food Safety, 12(3). https://doi.org/10.4081/ijfs.2023.10926

Die Verbindung zwischen Geschichte und Studie

Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass Fische oder Krustentiere keine Schmerzen empfinden. Die barbarische Praxis, Hummer, andere Dekapoden und Meeresbewohnende lebendig zu kochen, ist trotz humanerer Zubereitungsmethoden immer noch weit verbreitet. Eine Arbeit von Mercogliano und Dongo fasst den derzeitigen Konsens über die Empfindungsfähigkeit von Krustentieren zusammen: Wir können sehr zuversichtlich sein, dass Krustentiere, von denen Hummer nur eine Art sind, empfindungsfähige Wesen sind, die Schmerzen und quälende Erfahrungen machen können - sie erfüllen nahezu alle Kriterien (7/8) für bewusste Erfahrungen, ähnlich wie viele andere Tiere, die wir als Haustiere halten. In der Studie von Conte und Kolleg:innen werden eine Vielzahl verschiedener Methoden zur Schlachtung von Dekapoden und Fischen und das jeweilige Ausmaß an Leid, das sie verursachen, aufgezeigt, wobei das lebendige Kochen besonders schlimm ist.

Wenn wir uns für den Verzehr von Tierprodukten entscheiden, sollten wir versuchen, die Schmerzen und das Leiden der Tiere so gering wie möglich zu halten. Viele Menschen haben den Irrglauben, dass Tiere wie Fische und Schalentiere nicht über die notwendigen physischen Voraussetzungen (Nervensystem, Nozizeptoren) verfügen, um Schmerzen zu empfinden. Das ist nicht wahr, und ich hoffe, dass diese Kurzgeschichte in Verbindung mit den zwei Studien einige kritische Denkanstöße liefert, um unsere üblichen Lebensmittelpraktiken, wie z. B. das Kochen von lebendigen Schalentieren, zu überdenken.

Die Idee zu dieser Geschichte kam mir, als ich in diesem Herbst an der Kasse eines neapolitanischen Fischrestaurants versehentlich einem Hummer in die Augen sah. Vielen Dank an Dr. Edoardo Arcuri für den Hinweis auf die zwei zitierten Studien.

Die Autorin

Alexandrina Guran hat Psychologie und Neurowissenschaften studiert und führt nicht-invasive Studien an Tieren durch, um deren kognitive Welt zu erforschen. Sie hat ein Theaterstück geschrieben und produziert, betreibt einen Blog über Datenkommunikation und schreibt in ihrer Freizeit weiterhin Belletristik, sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch.

Dr. Helena Hartmann
Dr. Helena Hartmann
Neuroscientist, psychologist and science communicator (she/her/hers)