Ein Bild mit dem Titel der Geschichte "Gehorchen oder nicht gehorchen?" und dem Namen der Autorin "Emilie Caspar". Das Bild enthält auch das Logo von Science & Fiction und eine Grafik eines blutigen Handabdrucks.

Eine Geschichte über ein Kind, das etwas erlebt, was kein Kind jemals erleben sollte.

Inhaltswarnungen

Völkermord

Die Kurzgeschichte

Es war ein Morgen wie viele andere in diesem kleinen Dorf am Hang, dessen wunderschöne Landschaften, klare Flüsse und fruchtbare Erde es wie ein Stück Himmel erscheinen ließen.

In diesem Dorf kennt jeder sich gut. Die Kinder gehen alle in dieselbe Schule in einem Nachbardorf auf der anderen Seite des Hügels. Man kann sie durch die Bananenfelder laufen sehen, um dorthin zu gelangen, ihr Lachen erfüllt die Luft. Die Älteren sitzen normalerweise auf einer Holzbank in der Nähe der kleinen Kirche und erzählen von den aktuellen Geschichten im Dorf und ihren alten Erinnerungen. Ihre faltigen Gesichter leuchten, wenn sie Geschichten erzählen. Die Erwachsenen arbeiten gemeinsam auf den Feldern rund um das Dorf, wo sie pflanzen und Feldfrüchte ernten. Wenn sie nicht auf den Feldern sind, helfen sie sich gegenseitig beim Hausbau oder betreiben den kleinen Markt, auf dem sie ihre Waren verkaufen, und von denen das ganze Dorf profitiert. Die Luft roch nach frischer Erde und reifen Früchten, vermischt mit den Geräuschen der Menschen, die arbeiten und fröhlich plaudern. Als die Sonne höher stieg und ein warmes Licht über das Dorf verbreitete, ging jeder seinem Tagwerk nach. Es war ein Ort, an dem das Leben langsam voranschritt, einfache Freuden geschätzt wurden und jeder Tag die starken Bindungen zwischen den Dorfbewohner:innen zeigte. In diesem Dorf sind die Menschen mehr als nur Nachbarn. Sie sind Freunde, sie betrachten sich als Familie und kümmern sich umeinander.

Als Charles, ein 8-jähriger Junge in blauen Shorts und einem grünen Hemd, von der Schule zurückkam, rannte er ins Haus seiner Eltern und fragte seine Mutter, ob er eine gegrillte Banane haben könne, bevor er rausging, um mit seinen Freunden zu spielen.

„Bitte, Mama! Deine gegrillten Bananen riechen so gut, ich will einen Bissen!“, bettelte er.

Seine Mutter fand ihn ein bisschen zu gierig, aber sie konnte nie widerstehen, wenn ihr Sohn um ihr köstliches Essen bettelte. Sobald er die gegrillte Banane hatte, rannte Charles nach draußen, um seine Freunde zu treffen und mit einem Ball zu spielen. Er genoss die verbleibenden Stunden des Tageslichts, bevor die Sonne hinter dem Hügel unterging und es Schlafenszeit war.

In dieser Nacht lag Charles im Bett und konnte nicht schlafen. Er musste ständig an einen kleinen Affen denken, den er beim Spielen mit seinen Freunden auf dem Bananenfeld gesehen hatte. Charles dachte, dass der Affe ein Stück gegrillte Banane vielleicht auch lieber mochte als die unreifen, grünen, die noch an den Bäumen hingen. Aber er wusste, dass der Affe es nicht wagen würde, in die Nähe des Dorfes zu kommen, weil die Ältesten ihn immer verscheuchten, um das Essen zu schützen.

Obwohl er wusste, dass seine Mutter wütend sein würde, sprang Charles aus dem Bett, schnappte sich eine halbe gegrillte Banane und rannte zu den Bananenfeldern, um den Affen zu finden. Er lief lange, konnte aber keine Spur von ihm finden. „Vielleicht ist er weiter weg“, dachte er, aber er zögerte, sich weiter von seinem Dorf zu entfernen, da er Angst hatte, gefährlichen Wildtieren zu begegnen.

Charles überlegte, nach Hause zurückzukehren, bevor seine Eltern bemerkten, dass er weg war, denn er wusste, dass sie sicherlich verärgert sein würden. Sie waren sich der Gefahren bewusst, nachts allein in der Wildnis unterwegs zu sein, und sie hatten ihm seit seiner Kindheit Vorträge darüber gehalten. Während er noch versuchte, eine Entscheidung zu treffen, bemerkte er in der Ferne Lichter aus seinem Dorf – Fackeln, begleitet von Geschrei, obwohl er die Worte nicht verstehen konnte. Er nahm an, dass seine Mutter seine Abwesenheit bemerkt hatte und die Nachbarn nach ihm suchten. Um Ärger zu entgehen, legte er sich neben der gegrillten Banane auf einen Felsen und beschloss, dass er lieber den Affen finden würde, als seinen wütenden Eltern gegenüberzutreten.

Charles erwachte, als das erste Tageslicht sein Gesicht wärmte. Plötzlich wurde ihm klar, dass er die ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Seine Eltern würden wütend sein, dachte er, und wahrscheinlich auch die Nachbarn. Er aß die Banane, die noch immer von Tieren unberührt war, und eilte zurück ins Dorf.

Als er näher kam, roch er etwas Brennendes. „Vielleicht hat jemand ein paar Bohnen zu lange gekocht“, dachte er. Doch plötzlich blieb Charles stehen, wie gelähmt angesichts der Szene vor ihm. Am Rand des Bananenfeldes sah er ein unvorstellbares Massaker: Überall lagen Leichen von Menschen, die er kannte, und die meisten Häuser waren zerstört. Sein Dorf, sein Stück vom Himmel, war nicht wiederzuerkennen.

Er rannte zum Haus seiner Eltern und betete, dass sie in Sicherheit waren. Doch da war niemand. Alles war auf den Kopf gestellt. Er sah die gegrillten Bananen auf dem Boden, übersät mit roten Flecken. Charles hatte keine Ahnung, was passiert war oder wo seine Eltern waren.

Plötzlich rief eine Stimme hinter ihm. Es war John, einer seiner Nachbarn, ein Mann von etwa 45 Jahren. „Charles, lauf! Geh nicht dorthin, sonst wirst du auch getötet!“, schrie John.

Charles verstand nicht, was passierte, wollte aber seine Eltern finden. John beharrte darauf: „Komm her, du musst dich verstecken. Sie suchen dich, so wie sie nach deinen Eltern gesucht haben. Du musst dich verstecken!“

Charles rannte zu John, der zu wissen schien, was los war. „John, erzähl mir, was los ist! Wo sind meine Eltern?“, rief Charles.

„Sie suchen dich! Sie wissen, dass du existierst. Einige der Leute, die das getan haben, sind unsere Nachbarn. Aber ich erkläre es dir später. Jetzt musst du weglaufen! Ich kann dir helfen, dich zu verstecken!“, drängte John.

Charles ergriff Johns Hand und John half ihm, aus dem Haus zu entkommen und in Richtung der Sümpfe den Hügel hinunter zu rennen. Für Charles und seine kurzen Beine kam es wie eine Ewigkeit vor, wie lange sie liefen. Als sie die Sümpfe erreichten, hob John Charles auf seine Schultern und half ihm, eine kleine Holzplattform zu erreichen, einen Ort, an dem sich die Bauern tagsüber ausruhten, sicher vor Schlangen und anderen Gefahren in den Sümpfen.

John sagte zu Charles: „Ich muss zurückgehen und nach anderen Überlebenden suchen. Warte hier und lass dich von niemandem sehen! Verstehst du? Wenn die Nacht hereinbricht, werden wir weiter gehen und versuchen, einen sichereren Ort zu finden.“ Charles konnte es nicht ertragen, nichts zu wissen. Er flehte John an: „Bitte erzähl mir, was passiert ist!“ Wo sind meine Eltern?“

Aber John bestand darauf, dass er weitere Überlebende finden müsse. „Wartet auf mich. Wenn ich bis zum Einbruch der Nacht nicht zurückkomme, geh tiefer in die Sümpfe und versteck dich. Passt auf, dass dich niemand findet.“ Damit ging John.

Charles blieb allein auf der Holzplattform zurück. Jede Stunde, jede Minute kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Er fragte sich, ob er seine Eltern je wiedersehen, mit seinen Freunden Fußball spielen oder zur Schule zurückkehren würde, wo sein strenger Lehrer jedes Mal lächelte, wenn Charles eine gute Antwort gab. Charles wusste es noch nicht, aber diese Nacht im April 1994 sollte das kleine Dorf auf dem Hügel für immer verändern.

Als die Sonne unterging, hörte Charles endlich John zurückkommen. Er sah erschöpft aus, und die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. John sagte zu Charles: „Ich habe es versucht, glaub mir, ich habe es versucht … aber ich konnte niemanden sonst finden, den ich retten konnte. Wir müssen weitergehen und einen Ort finden, an dem wir uns verstecken können.“ Er fuhr fort: „Sie werden weiter nach dir suchen. Sie sind den hasserfüllten Botschaften zum Opfer gefallen, die sie im Radio gehört haben, und haben beschlossen, dass Leute wie du ausgelöscht werden müssen.“

Charles, verwirrt und weinend, fragte: „Was meinst du mit ‚Leuten wie mir‘? Ich verstehe das nicht!“

John versuchte es zu erklären, aber wie konnte man einem 8-jährigen Jungen, dessen Leben völlig auf den Kopf gestellt worden war, solch einen Horror erklären? Er antwortete einfach: „Manche Menschen teilen die Menschen in Gruppen ein, weil sie glauben, manche seien besser als andere oder dass bestimmte Gruppen nicht mehr existieren sollten. Deine Eltern versuchten, dich vor den schrecklichen Dingen im Radio zu schützen. Deshalb freuten sie sich jeden Tag, wenn du nach der Schule Fußball spieltest, anstatt zu Hause zu bleiben. Aber jetzt werden Menschen wie du als eine Bedrohung angesehen, die beseitigt werden muss. Vor ein paar Tagen ist etwas Tragisches passiert, und du, deine Familie und viele andere werden dafür verantwortlich gemacht. Im Radio wurde ausgestrahlt, dass jeder im Land helfen muss, das Land zu ‚säubern‘, was bedeutet, Menschen wie dich anzugreifen. Sie werden nicht aufhören, bis sie denken, ihre Aufgabe sei erledigt, und von nun an musst du jeden Tag um dein Leben, ums Überleben kämpfen.“

Charles verstand nicht ganz, aber er begriff die Gefahr. Er fragte: „Aber warum hilfst du mir?“ Warum hast du mich ihnen nicht übergeben?“

John zögerte und wusste nicht, was er antworten sollte. Schließlich sagte er: „Ich glaube nicht, dass Menschen in Gruppen eingeteilt werden sollten. Für mich sind wir alle gleich. Und ich stimme den Befehlen, die sie gegeben haben, nicht zu. Ich würde lieber sterben, indem ich Leben rette, als zu leben, indem ich anderen weh tue.“ Er fuhr fort: „Und jetzt komm mit mir. Lass uns weitergehen und so lange wie möglich am Leben bleiben.“

Diese Geschichte wurde aus dem Englischen von Helena Hartmann mithilfe von DeepL übersetzt.

Die Studien

  • Interviews mit ehemaligen Völkermordtäter:innen aus Ruanda und Kambodscha: Caspar, E. (2024). Understanding Individual Motivations and Desistance: Interviews with Genocide Perpetrators from Rwanda and Cambodia. Journal of Perpetrator Research, 6(2). http://doi.org/10.21039/jpr.6.2.142
  • Fachbuch, das das gesamte Feld zusammenfasst: Caspar, E. A. (2024). Just Following Orders: Atrocities and the Brain Science of Obedience. Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/9781009385428

Die Verbindung zwischen Geschichte und Studie

Diese Geschichte, die von wahren Begebenheiten inspiriert ist und die Emilie Caspar in Ruanda gehört hat, wirft eine entscheidende gesellschaftliche und wissenschaftliche Frage auf: Wie können wir erklären, dass in einem ähnlichen historischen, wirtschaftlichen und sozialen Umfeld manche Menschen Opfer von Hasspropaganda werden und sogar an Völkermord teilnehmen, während andere Widerstand leisten? Das Verständnis menschlicher Entscheidungsfindung ist äußerst komplex, insbesondere in solch extremen sozialen Kontexten. Emilie Caspar ging diesen Forschungsfragen zunächst im Labor mithilfe von Elektroenzephalographie (EEG) und funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) nach, um zu untersuchen, wie das Befolgen oder Widerstehen unmoralischer Befehle, einer anderen Person Schaden zuzufügen, verschiedene neurokognitive Prozesse beeinflusst, darunter Empathie, Schuld und Verantwortung.

Sie ist jedoch der festen Überzeugung, dass solche sozial bedeutsamen Fragen nicht ausschließlich an Universitäten mit Gelegenheitsstichproben untersucht werden sollten, da diese Teilnehmenden oft nur ein begrenztes Verständnis der katastrophalen Folgen von Gehorsam haben. Daher hat sie einen für die Neurowissenschaft ungewöhnlichen Schritt gewagt: Sie ist mit tragbaren EEG-Geräten ins Feld gegangen, um echte ehemalige Völkermordtäter:innen und -retter:innen, vor allem in Ruanda, aber auch in Kambodscha, sowie Militärangehörige zu testen und zu befragen. Sie hat außerdem einen qualitativen Ansatz gewählt, um zu verstehen, wie diese Personen ihre Teilnahme oder ihren Widerstand erklären, und strebt damit neben ihren neurowissenschaftlichen Erkenntnissen eine allumfassendere Sicht an.

Die Autorin

Emilie Caspar ist außerordentliche Professorin an der Universität Gent (Belgien). Ihre Forschung und ihre Arbeitsgruppe konzentrieren sich auf das Verständnis dessen, was moralische Entscheidungen in bestimmten Kontexten wie Völkermorden oder nach der Inhaftierung leitet, wobei sie hauptsächlich einen sozialneurowissenschaftlichen Ansatz verwendet. Hier beschreibt sie ausführlich, wie sie ihre Forschungsprojekte durchführt: https://emiliecaspar.home.blog/

Dr. Helena Hartmann
Dr. Helena Hartmann
Neuroscientist, psychologist and science communicator (she/her/hers)